Eine Rezension von Reinhard Mocek

Über Wahrheit und Verdrängung

Hannah Arendt:
Rede am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des
Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg
Mit einem Essay von Ingeborg Nordmann.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1999, 86 S.

Festreden sind zugeschnitten auf ein honoriges Publikum. Selten wird dann der ganze Text in der Tagespresse veröffentlicht; in der Regel wirbt am nächsten Tag die Mitschrift des Journalisten und sein mehr oder weniger sachkundiges Urteil um die Akzeptanz des Gesagten in einer breiteren Öffentlichkeit. Und dann erfüllen sie natürlich auch den Zweck, den Preisgeber zu loben und für die gute Wahl zu danken, in aller Bescheidenheit versteht sich, was in umwegige Sprachgesten der Überraschung eingebaut wird. Gänzlich anders sieht es aus, wenn eine der großen Philosophinnen des 20. Jahrhunderts eine solche Ehrung zum Anlaß nimmt, um eine Geschichtslektion zu geben: Hannah Arendt! Geboren am 14. Oktober 1906 in Hannover, aus jüdischem Hause, Studium der Philosophie bei Husserl, Heidegger und Jaspers, 1933 nach Frankreich emigriert, 1940 interniert, gelingt ihr die Flucht vor den anrückenden deutschen Truppen in die USA. Ab 1953 lehrt sie Politikwissenschaft zunächst in Berkeley, danach in Princeton und Chicago. In Deutschland wurde sie mit einem Schlage bekannt durch ihren Bericht Eichmann in Jerusalem (deutsche Ausgabe 1965) und die darin aufgestellte These von der „Banalität des Bösen“, die nach Jahren der Verdrängung die Mitschuldfrage an den Naziverbrechen aufs Korn nahm. Die Struktur antidemokratischer Herrschaftssysteme war eines ihrer politikwissenschaftlichen Hauptthemen; ihr bereits 1951 veröffentlichtes Buch Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft enthielt die auf Ansätze bei Karl Jaspers zurückgehende Totalitarismustheorie, mit der Faschismus und Kommunismus strukturell identifiziert werden. Infolgedessen war die Antifaschistin Arendt in der DDR ebenso unbeliebt, wie die harsche Kritik an dem eiligen Abschluß der Entnazifizierung in der BRD ihr auch dort kaum Freunde schaffte. 1967 ging sie an die New School for Social Research in New York. Am 4. Dezember 1975 verstarb sie. Philosophisch reflektiertes politisches Handeln war für sie die Grundbestimmung des Menschen als Zoon politicon; ihr philosophisch wohl nachhaltigstes Werk, Vita activa oder Vom tätigen Leben, ist dieser Frage gewidmet.

Es verwundert also nicht, daß Hannah Arendt die Chance zu einer solchen Geschichtslektion sehr bewußt ergriffen hat. Und sie war zunächst an diejenigen gerichtet, die vor ihr saßen, als sie den Lessing-Preis entgegennahm. Honoratioren aus Politik, Kultur und Wirtschaft. Da die Verleihung des Preises im Jahre 1959 stattfand, kann man davon ausgehen, daß diese Persönlichkeiten samt und sonders durch die Kriegs- und Faschismusjahre gegangen waren, fraglos bewußt, vielleicht in innerer Emigration, aber, wie sie auch aus eigenem ehemaligem Freundeskreis erfahren hatte, so mancher auch engagiert. Und einige von ihnen - so ihr philosophischer Lehrer und Geliebter (das ist in der Tat großzuschreiben) Martin Heidegger - hatten sich mit diesem politikgewordenen Ungeist nicht nur arrangiert, sondern sich dazu sogar noch etwas einfallen lassen. Beförderndes, Erklärendes, Nützendes. Und Hannah Arendt wußte natürlich, daß in diesem Preisjahr 1959 die faschistische Vergangenheit für die Deutschen in der Bundesrepublik offiziell längst erledigt war, moralisch und juristisch. Die öffentliche Kritik an den in Nachfolge des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses ergangenen Urteilen für die sogenannte zweite Reihe der Nazikriegsverbrecher hatte inzwischen in nahezu allen politischen Parteien - auch in der SPD - Verständnis und populistische Unterstützung erfahren. Eine Bundesamnestie für die von den westlichen Alliierten in diesen Nachfolgeprozessen ausgesprochenen Haftstrafen wurde bereits im Jahre 1949 erlassen. Und das zweite Straffreiheitsgesetz von 1954 bewirkte, daß von nun an im Grunde niemand mehr befürchten mußte, daß seine bislang unaufgedeckt gebliebenen Straftaten als Handlanger des Faschismus noch verfolgt würden. Im Gegenteil, diese lästige Vergangenheit schien bewältigt zu sein. An den Verbrechen waren allein Hitler und ein paar seiner Gefolgsleute schuld; und der Krieg war nur mehr noch in Erinnerung als Not- und Entbehrungszeit. Dies aber war längst ausgestanden, und dieses Notstück Vergangenheit war inzwischen auch erfolgreich ökonomisch bewältigt. War es da nicht ein Affront, an diese gigantische „Verdrängungsleistung“ die Sonde der rückblickenden Kritik zu legen? Gewiß; und der Titel der Arendtschen Festrede ließ an diesem Kernanliegen keinen Zweifel: „Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“. Um dieser Menschlichkeit willen ist mehr nötig als rückblickendes Verurteilen und verdrängendes Vergessen. Und der eigentliche, tiefere Verhinderungsgrund für ebendiese nicht stattgefundene Aufarbeitung des Faschismus in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit liegt, folgt man Hannah Arendts Gedankengang, im fehlenden Mut zum Denken als Weg zum Freiheitsgewinn. Ganz im Geiste Lessings ist nicht das erreichte Ziel, das gar als vorschnelle Übereinkunft abzumachen ist, der entscheidende Punkt, sondern es ist das Aufgreifen des „fermenta cognitionis“, das Lessing nach eigenem Bekunden in all seinen Schriften in diese Welt gestreut und unermüdlich propagiert hat. Und in diesem Sinne prüft Hannah Arendt die Tauglichkeit der im Begriffe der Menschlichkeit gemeinhin verwobenen Kategorien wie Mitleid, Freundschaft, Wahrheit und Wirklichkeit, entfernt aus ihrem alltagssprachlichen Verständnis das Absolute, das diese Kategorien fälschlicherweise zu eindeutigen Richtwerten für menschliches Handeln machen würde.

Vierzig Jahre nach dieser Rede ist der Text so aktuell wie damals. Ingeborg Nordmanns leider nicht datierter Essay „Auf Freiheit kommt es an“ greift die Grundgedanken der Rede Hannah Arendts noch einmal auf und stellt sie in die geistige Rezeptionswelt der Bundesrepublik, ganz offenkundig noch vor dem politischen Grundakkord der deutschen Wiedervereinigung. Damit bringt sie den Leser um die Chance, die Arendtsche Argumentation auf die nun wieder vor beiden Geschichtsteilen Deutschlands stehende Frage der Aufarbeitung der Vergangenheit seit 1945 bezogen zu sehen. Hat man sich doch bald schon daran gewöhnt, daß der selbstkritische Blick auf die Vergangenheit ein rein ostdeutsches Anliegen ist. Das kleine gehaltvolle Büchlein kann dem abhelfen und konterkariert so manche selbstgewisse Pose derer, die längst schon wieder über allen geschichtlichen Dingen stehen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite